Interview

Ulrike Schaz im Gespräch mit der Filmwissenschaftlerin Dagmar Brunow

Dagmar Brunow ist Associate Professor für Filmwissenschaften an der Linné-Universität in Växjö. Sie arbeitet zu Fragen von Film, Archiv und kulturellem Gedächtnis. Veröffentlichungen zu Soundscapes und Gentrifizierung, Archiv und Gedächtnis, Queer Cinema, feministischem Experimentalfilm, Videokollektiven, Essayfilm, Popfeminismus und vielem anderen. Die gelernte Buchhändlerin und ehemalige Literaturübersetzerin lebt abwechselnd in Hamburg und Schweden.

»PARIS kein Tag ohne dich« – ein Essayfilm

D: Herzlichen Glückwunsch zu dem tollen Film. Die Geschichte, die du erzählst ist unglaublich und die Form, die du entwickelt hast, das Essayistische, gefällt mir sehr.

U: Bevor ich den Film begonnen habe, habe ich sie unendlich oft erzählt. Weil sie zu meinem Leben gehört. Und wenn mich Menschen fragten, was ich in meinem Leben gemacht habe, dann landete ich immer irgendwie bei diesen Ereignissen, die meinen Werdegang gestört oder durcheinander gebracht haben. Natürlich habe ich auch viel daraus gelernt. Ein vielschichtiger Prozess.
Und weil ich mich nie nur als Opfer empfunden habe, sondern es mir immer wichtig war, meine Handlungsfähigkeit zu behalten und eine gewisse Widerspenstigkeit, habe ich nach einer filmischen Form gesucht, die eigenwillig ist und diesem Bemühen entspricht.

D: Beim Essayfilm geht es auch immer um eine Bildbefragung, um den Zweifel am Bild und seiner Beweiskraft. In deinem Film ist dies total zentral. Zweifel an Bildproduktion und auch an den Machtverhältnissen, die bestimmte Bilder, aber auch bestimmte Erzählungen oder Narrationen über Personen produzieren, durch mediale und andere Diskurse. Essayfilm ist, wie alle Kategorisierungen, immer nur eine Hilfsbeschreibung. Es gibt in der Forschung keine feststehende Definition. Ich finde es dennoch strategisch wichtig, den Film als Essayfilm zu positionieren, gerade weil du auch eine Filmemacherin bist. Frauen wird ja oft unterstellt, sie machten ohnehin nur Befindlichkeitsfilme. Die Einreihung in den Essayfilmdiskurs ist ein klares Statement. Da bist du in guter Gesellschaft.

U: Ja, die Gesellschaft gefällt mir. Und ich wollte die Geschichte essayistisch erzählen und das Untergründige zulassen. Daraus ergaben sich spannende filmische Probleme. Ich hatte einen großen Materialfundus, den ich nutzen wollte um die Geschichte zu erzählen. All das Gesammelte, was in meinen Augen real relevant für die Geschichte war – auf der bürokratischen wie auf der Ebene meiner Emotionen. Bei der Montage haben Magdolna Rokob und ich mit der Ausbreitung allen Materials aus diesem Fundus angefangen und geschaut, was entfaltet auf der filmischen Timeline eine Wirkung, eine Aura (im Sinne Benjamins), womit können wir arbeiten. Dieser Prozess war aufwändig, aber sehr interessant. Genau so interessant wie die vielen Vorarbeiten, die Jule Katinka Cramer, die Kamerafrau, und ich im Atelier ausprobiert haben: das Auslegen der Piniennadeln oder das Nähen von Karton zum Beispiel. Später haben wir im Wechselspiel an der visuellen und der akustischen Ebene gearbeitet. Roland Musolff hat immer wieder Sound- und Musikstücke gezaubert, die mit den Bildern interagieren und sie verändert haben. Wir wollten Raum haben, dass auch die Töne erzählen können und nicht nur die Bilder. Die Erzählung ist in derselben prozesshaften Weise entstanden.

Film als Inventur

D: Der Begriff des „Archivs“ spielt auch eine wichtige Rolle. Dein Film ist eine Erinnerungsarbeit. Du nutzt einerseits dein eigenes künstlerisches Archiv. Das ist unbedingt hervorzuheben. Du machst den Film auch als Künstlerin – als Fotokünstlerin, Malerin und Filmschaffende. Also in diesen verschiedenen Funktionen. Dabei greifst du einerseits auf ein materielles Foto- und Filmarchiv zurück, aber andererseits auch auf deinen eigenen Körper als Archiv für die Gefühle und Affekte, die sich darin angesammelt haben. Dem Erstarren und Einfrieren beispielsweise. Mit deinem Film leistest du wiederum einen Beitrag zum audiovisuellen Gedächtnis der Bundesrepublik. Du arbeitest mit dem Begriff der „Inventur“. Aber das herausragende Alleinstellungsmerkmal und das Innovative an deinem Film ist, dass du eine prozesshafte Inventur vornimmst. Die du sehr gut historisch verankerst im Laden deines Vaters. Dein Film ist einerseits eine intellektuelle Biografie und zugleich ein Stück feministischer Geschichte im Kontext der Frauenbewegung in der Bundesrepublik. Er bringt verborgene Geschichten zum Vorschein. Der Film ergänzt die Geschichtsschreibung um Aspekte, die häufig unter der dominanten Geschichtserzählung verborgen bleiben. Darin erinnert er an das Verfahren, das Walter Benjamin in seinen geschichtsphilosophischen Schriften beschreibt: du nimmst die Momente der Krise und die Ruinen und die verstreuten Scherben, die die Siegergeschichtsschreibung zurück gelassen hat, kehrst zu ihnen zurück und machst sie zum Ausgangspunkt für eine neue Geschichtsschreibung. Das Ereignis, das du in deinem Film beschreibst, ist der Aufhänger, aber vor allem zeigst du, wie es nachwirkt.
Also das, was Benjamin dann „Scherbe“ nennt, ein krisenhaftes Moment, das sich durch die Geschichte fortschreibt. Du machst Stimmen hörbar, die sonst untergegangen wären.

U: Das Inventarisieren oder Archivieren zielt ja auch darauf, etwas zu sortieren, auszuräumen und abzulegen.

D: Ja, im Film sagst du, dass die Inventur nicht abgeschlossen werden kann. Aber eine Inventur ist nie abgeschlossen, und man muss sie außerdem jedes Jahr erneut durchführen. Auch das Archiv ist nie abgeschlossen, es ist ein fortwährender Prozess. Selbst wenn ein Archiv keine Neuzugänge mehr sammelt, wird der Bestand doch immer wieder neu kontextualisiert und neuartig gelesen.

U: Ja, ich sage im Film, dass ich nur inventarisieren kann, was ich vor mir sehe. Ich kann nur die Dinge einbeziehen oder reflektieren, derer ich habhaft werden kann. Aber die Datenspeicherungen der Geheimdienste sind unzugänglich und entziehen sich jeder Kontrolle. Und ich wette, dass meine Daten aus dem Jahre 1975 nicht „kontextualisiert“ wurden. Das ist ja das Verrückte. Sie werden konserviert. Für alle Fälle. Man weiß ja nie. Wahrscheinlich wird da noch stehen, dass ich ein „Terrorist“ bin, wenn ich tot bin. Und diesem Archiv fehlt jede Transparenz. Das ist gefährlich. Die Datenspeicherung ist in der Zeitspanne der Geschichte extrem weiter entwickelt worden. Als wir in Paris verhaftet wurden, wurde über Lochkarten gespeichert und es gab keine Computer. Die Vernetzung war also längst nicht so perfektioniert wie heute. Umso wichtiger wären Kontrollinstitutionen und Möglichkeiten sich gegen Speicherungen zu wehren.

Das prozesshafte Archiv als Labor

D: Sehr gelungen im Film fand ich den von dir inszenierten Raum, der eine Werkstatt ist, ein Ort der Begegnung, Befragung und Erprobung. Wie ein Labor. Er wird zu einem lebendigen Archiv. Ich fand vor allem faszinierend, dass dieser Raum noch einmal dein künstlerisches Archiv „performt“: du baust das Regal für die Fotokartons, dann nutzt du diese Fotos, bevor du deine Tagebücher und anderes Printmaterial dort auslegst. Der Raum wird immer wieder neu inszeniert und behält doch eine Kontinuität. Mal ist er der Schauplatz des Treffens von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, mal findet hier ein Essen mit Gästen statt.

U. Das war ein Risiko. Wir hatten keine gute Finanzierung und mussten an Vielem sparen, mit einfachen Mitteln arbeiten und improvisieren – das war eine Herausforderung. Der Raum, der ja wirklich toll ist, gehört zu dem selbstverwalteten Projekt Ottenser Werkhof. In einem der Ateliers arbeite ich und dort haben wir den Film auch geschnitten. Logistisch war das klasse, denn sämtliches Archivmaterial, das wir fortwährend beim Dreh brauchten, lagerte in meinem Atelier zwei Eingänge weiter. Ursprünglich wollte ich in meinem Atelier drehen. Weil dieses ein geschützter Ort für mich ist. Eine Schutzzone. So wie die Werkstatt meines Vaters. Die habe ich als Kind erlebt, als Universum meines Vaters. Die Werkstatt war wunderschön, ein poetischer Ort mit dem Geruch von Beize und Holz. Ein magischer Ort. Und es gab dort Achtsamkeit im Umgang mit dem Material und Konzentration.
Der Raum, den wir als Drehort nutzten, sollte ein innerer Raum sein, in dem etwas entsteht und sich Dinge verdichten. Zum Beispiel die Begegnung mit Jean-Marie, mit dem ich 30 Jahre lang nie über die gemeinsamen Erfahrungen beim Geheimdienst geredet habe. Er wusste nicht, mit welchen Folgen ich mich in den Jahren dazwischen herumschlagen musste.

D: Deswegen fand ich es auch gut gelöst, dass dieser Raum im Werkhof nicht plüschig oder gemütlich aussieht. Du hast über die Werkstatt deines Vaters auch ein Fotobuch gemacht, das du in deinen Film integrierst. Damit geraten unterschiedliche künstlerische Ausdrucksmittel in den Film. Und diese Selbstreflexivität ist auch ein Element des Essayfilms. Die verschiedenen intermedialen Momente werden miteinander verschränkt: Das Fotobuch als Bestandteil deines Archivs, das einfließt in den Film. Und das dich wieder anregt zu einer neuen Reflexion über die Werkstatt deines Vaters im Kontext deiner Paris-Geschichte, und das alles an dem Ort, den du dir poetisch performativ geschaffen hast. Gleichzeitig brichst du mit der Abgeschlossenheit des Raumes nach außen, wenn du in einer Szene nach oben schwenkst, woraufhin die Silhouette einer Figur sichtbar wird, die alles, was sich unten im dem Raum abspielt, überwacht. Es ist, als würde das Gefühl überwacht zu sein nie nachlassen.

Das Nachwirken des Krieges: eine Geschichte der Bundesrepublik

U: Ja. Dieses Gefühl von latent vorhandener Überwachung – das schleppte ich sehr lange mit mir herum. Ich war mir nie sicher – wo taucht die Geschichte wieder auf, am Fahrkartenschalter, an Grenzübergängen…

D: Der Film ist weit mehr als „nur“ eine Biographie, er ist zugleich eine Geschichte der Bundesrepublik. Anhand deiner privaten Geschichte werden weitreichende Fragen aufgemacht. Zu sehen, wie sich dieser Krieg fort geschrieben hat, betrifft nicht nur deine Generation sondern auch meine. In Familienstrukturen, aber auch im Polizeiwesen oder in den Geheimdiensten, in den öffentlichen Ämtern, in all dem, wie die Bundesrepublik funktioniert hat. Gerade die feministische Perspektive deines Films ist besonders spannend. Denn es geht gleichzeitig um eine Selbstermächtigung, ein Empowerment. Filme zu feministischer Geschichte gibt es immer noch zu wenige. Und wenn, dann stehen einzelne Personen, Aktivistinnen im Vordergrund.
Dein Film ist anders. Durch das Einbeziehen deiner künstlerischen Arbeit, durch die Fotofilmsequenzen, die du baust, wenn du über die Politisierung in den 70er Jahren sprichst und über die Frauenhausarbeit. All dies hebt den Film künstlerisch auf eine interessantere Ebene.

U: Der im Film inszenierte Raum bündelt verschiedene Stränge der Erzählung. Ein Strang, der mir besonders wichtig war, ist der Krieg, der nicht vorbei war. Es wurde nicht darüber gesprochen, aber er war spürbar. Ich musste an diesen Punkt zurück.

Hamburg, 11.4.2020